14. Bahnhof

Bahnhof

„Bedeutenden Schaden für unser so schönes Wiesental“ befürchteten die Nehrener Gemeinderäte, als das Königreich Württemberg und das preußische Hohenzollern 1864 den Bau einer Bahnlinie von Tübingen nach Balingen beschlossen. Der Protest änderte nichts: Ab 29. Juni 1869 schnauften die Dampflokomotiven schon regelmäßig durch das Steinlachtal – und an Nehren brausten sie vorbei. Der Gemeinderat änderte sein Verhältnis zur Bahnlinie rasch, denn durch hohe Bevölkerungszahlen bei geringem Arbeitsplatzangebot im Ort waren viele Nehrenerinnen und Nehrener auf außerörtliche Arbeitsplätze angewiesen. Wie hinkommen?

Wegen dieses Bedarfs beantragte die Gemeinde schon 1872 einen „Eisenbahnhaltepunkt“. Doch Nehren musste den Antrag mehrfach wiederholen, denn die Staatseisenbahn wiegelte ab: Der Bahnhof Dußlingen sei nur eine halbe Gehstunde entfernt, außerdem sei die Wiederanfahrt des Zuges auf der bei Nehren ansteigenden Strecke zu aufwendig. Es dauerte tatsächlich 26 Jahre, bis der Ort 1898 endlich seinen kleinen Bahnhalt bekam, bestehend aus Bahnsteig und Bahnwärterhaus.

Hier stiegen 1910 täglich 100 Menschen in den Frühzug nach Hechingen, wo die Textilfabrik in der Friedrichstraße rund 2000 Arbeitsplätze gab. Den etwas späteren Zug nach Tübingen und zu Arbeitsplätzen in Derendingen, Lustnau oder gar Reutlingen nutzten 60 bis 70 Personen. Weil unter den Arbeiterpendlern „viel Bitterkeit und täglicher Ärger“ entstand, wenn sie winters am Bahnstieg froren, bezahlte die Gemeinde 1925 die Erweiterung des Bahnwärterpostens um einen Wartesaal und kam für die Heizkosten auf. Seit 1926 diente die Station Nehren auch für den Stückgutverkehr der Gewerbetreibenden und der Landwirte.

Abb. 1: Planskizze Haltepunkt 1912: Der Vicinalweg von Mössingen nach Nehren (heute Bahnhofstraße) trennt das Bahnwärterhaus von Schutzhütte und Abort.

Abb. 1: Planskizze Haltepunkt 1912: Der Vicinalweg von Mössingen nach Nehren (heute Bahnhofstraße) trennt das Bahnwärterhaus von Schutzhütte und Abort.

Abb. 2: Original Bauunterlagen

Abb. 2: Original Bauunterlagen

Abb. 3: Skizze der Erweiterung: 1925 erhält der Bahnwärterposten einen Warteraum.

Abb. 3: Skizze der Erweiterung: 1925 erhält der Bahnwärterposten einen Warteraum.

Abb. 4: Eine frostige Angelegenheit: Vor 1925 stand den Wartenden nur die überdachte Schutzhütte zur Verfügung, so wie es heute wieder der Fall ist.

Abb. 4: Eine frostige Angelegenheit: Vor 1925 stand den Wartenden nur die überdachte Schutzhütte zur Verfügung, so wie es heute wieder der Fall ist.

Das „rote Nehren“

Über Jahrhunderte hinweg prägte ein Überangebot an Arbeitskräften die Wirtschaftsstruktur des Ortes. Noch 1953 zählte Nehren 358 Auspendler bei nur 36 Einpendlern. Gleichzeitig boten heimische Betriebe etwa 300 Arbeitsplätze. Im Ort arbeiteten bis Kriegsbeginn 1939 etwa 80 Frauen bei einer 1925 errichteten Filiale der Trikotwarenfabrik Conzelmann aus Tailfingen, 1948 gab es dort nur noch 36 Arbeitsplätze. Gustav Bodenmüllers Kunstharz- und Bakelitfabrik bot im selben Jahr 41 Männern Beschäftigung.

Die vielen auswärts beschäftigten Arbeiter dominierten die Sozialstruktur, das Vereinsleben und die politische Struktur der Gemeinde. Nehren galt als „rot“: Hier erreichten „linke“ Parteien (KPD, SPD) bei den Reichstagswahlen 1919 bis 1932 im langjährigen Durchschnitt 63 Prozent aller Stimmen. Dieser Anteil ging 1932 fast ganz auf das Konto der KPD, die 41 Prozent der Wählerstimmen erhielt. Liberale und das bürgerliche Lager (darunter die Deutsche Demokratische Partei DDP) hielten sich im Mittel bei rund 30 Prozent der Stimmen, stürzten aber 1932 auf rund 9 Prozent ab.

Am 31. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die letzten freien Wahlen fanden am 5. März statt und brachten der NSDAP reichsweit 44 Prozent Wählerstimmen ein. Wäre es überall wie in Nehren gewesen, hätte die NSDAP mit 38 Prozent der Stimmen keine Chance gegen das starke Arbeiterlager gehabt.

Abb. 5: Wahlergebnisse 1919 bis 1933

Abb. 5: Wahlergebnisse 1919 bis 1933

Text: Wolfgang Sannwald